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Sarracenia purpurea
am "Naturstandort" in der Schweiz

Hartmeyer, S. (1996) Das Taublatt (GFP, Heft 28: 11-15
 
Es war im Mai 1987 im Botanischen Garten Brüglingen (Basel, Schweiz). Ich richtete gerade mit einigen freiwilligen Helfern den etwa 2,5 × 1,5 m großen Insektivoren-Schaukasten für den bevorstehenden Sommer ein, als der damalige Chefgärtner Herbert Dipner mich fragte, ob ich schon einmal etwas von den in freier Natur wachsenden Sarracenien im Jura gehört hätte. Nun ja, gehört hatte ich bereits davon, aber wo genau diese angeblich sehr großen und robusten Fleischis zu finden waren, wurde von den Insidern streng geheim gehalten, um den Standort vor unerwünschten Sammlern zu schützen. Herr Dipner lächelte und meinte, wenn ich Interesse und ein paar Gummistiefel hätte, könnten wir im Juli/August des Jahres einen Ausflug dorthin unternehmen. Nun ich war sogar sehr interessiert und stimmte begeistert zu. Leider verhinderten entweder das Wetter oder notwendige Arbeiten an unserem damals frisch erworbenen Haus in Weil am Rhein, daß der Ausflug 1987 durchgeführt werden konnte. Diese geheimnisvollen Pflanzen einmal in natura zu sehen, blieb jedoch seither ein festes Vorhaben.

Es sollten noch sechs Jahre vergehen, bis dieser Plan tatsächlich realisiert werden konnte. 1993 hatte ich Ruedi Fürst eingeladen – bekannt durch das von ihm und Thomas Carow 1990 herausgegebene Buch "Fleischfressende Pflanzen" (Verlag Thomas Carow, ISBN 3-9801839-1-2) – auf meinen beiden, in diesem Jahr im Botanischen Garten Brüglingen stattfindenden Dia- und Videovorträgen über fleischfressende Pflanzen, sein Buch (auf Wunsch mit einer Widmung), sowie einige seiner Insektivoren zu präsentieren. Wir kannten uns bereits seit einigen Jahren von den Treffen der Schweizer Karnivoren-Freunde in Aarburg und er nahm meine Einladung gern an. Außer dem Buch und einigen sehr attraktiven Sonnentau- und Schlauchpflanzen brachte er auch noch ein paar prächtige Drosophyllum lusitanicum in voller Blüte mit, sowie auf puren Lavabrocken wachsende Pinguicula agnata und Pinguicula × 'Sethos' und last not least einige Roridula gorgonias, mit den darauf lebenden Pameridea-Wanzen. Kein Wunder also, daß die Veranstaltung mit über 50 Besuchern ein voller Erfolg wurde. Selbstverständlich wurde im Anschluß daran kräftig über die Fleischis gefachsimpelt und wir kamen auch auf das Thema "Sarracenien im Jura" zu sprechen.

Ruedi, der selbstverständlich auch die "geheimen" Orte in der Schweiz kennt, sagte spontan zu, meine Frau Irmgard und mich dorthin zu führen, um die Pflanzen auf Video zu dokumentieren. Wir verabredeten uns für eines der nächsten Wochenenden, und zum Glück spielte dann auch das Wetter mit. Ich bitte um Verständnis, daß ich an dieser Stelle auf eine detailliertere Beschreibung des Zugangs verzichte, um so das "Geheimnis" im Interesse der einmaligen Pflanzen weiterhin zu wahren.

Etwa eine Stunde Autofahrt von Weil am Rhein entfernt treffen wir uns pünktlich zum vereinbarten Zeitpunkt am Bahnhof einer kleinen Ortschaft im Schweizer Jura. Ruedi hat seine Frau Claudia und die beiden Söhne mitgebracht, denn die ganze Familie Fürst hat Spaß an solchen Ausflügen in die Natur, die üblicherweise mit einem zünftigen Picknick kombiniert werden. Entsprechend ausgerüstet und gut gelaunt fahren wir gemeinsam noch wenige Kilometer, bis wir nur noch zu Fuß weiterkommen. Besonders die beiden Jungen sind begeistert, als wir erst noch einen Zaun überwinden müssen, um unser Ziel, ein herrliches Hochmoor, zu erreichen.

Hier, in etwa 1000 m Höhe, ist der Boden mit einem dichten, von Gräsern durchsetzten Sphagnum-Moospolster bedeckt, in dem unsere Füße knöcheltief einsinken. Vereinzelt und in Gruppen wachsende, recht kleinwüchsige Kiefern sind an Stamm und Ästen dicht von Flechten besiedelt, was auf das rauhe und feuchte Klima hindeutet. Im Winter fällt die Temperatur bis knapp -40 °C, wobei der Boden mit einer meterhohen Schneeschicht bedeckt ist. Im Sommer sind tagsüber 15–25 °C normal, aber auch 30 °C können erreicht werden, wobei sich der Boden an sonnigen Stellen entsprechend erwärmt. Über Nacht kann dann die Temperatur dennoch mitunter bis nahe an die Frostgrenze sinken. Die Pflanzen hier müssen sich also einem Temperaturunterschied von etwa 70 °C im Jahr anpassen und am Boden auch noch Überschwemmungen nach heftigen oder längeren Regenfällen überstehen.

Die Temperatur ist mit etwas über 20 °C an diesem Tag recht angenehm und auch die üblicherweise hohe Luftfeuchtigkeit hält sich im Rahmen. Ideale Bedingungen für Videokamera und Fotoapparat, die bereits nach wenigen Minuten benötigt werden, um zu dokumentieren, was wir alle hocherfreut vorfinden. Mehr als ein Dutzend kreisförmige Horste, bestehend jeweils aus über 100 Schläuchen von Sarracenia purpurea ssp. purpurea sind in Sichtweite über den Boden verteilt. Was für ein Anblick! Die Horste erreichen etwa einen Meter im Durchmesser, wobei die einzelnen, meist aufgerichteten Schläuche die üblichen 15–20 cm Länge aufweisen. Einige der typischen Blüten ragen hervor, deren dunkelrote Blütenblätter schon vor einigen Wochen abgefallen sind. Die deutlich geschwollenen Fruchtknoten beweisen, daß diese Schlauchpflanzen hier auch Samen ansetzen, allerdings können wir vor Ort keine Sämlinge oder Jungpflanzen entdecken. Die durchweg sehr gesunde Farbe der Schläuche variiert von gelbgrün bis dunkelgrün mit einer leichten roten Äderung, bis hin zu vereinzelten vollständig roten Exemplaren. Im mit mehr oder weniger Regenwasser gefüllten Inneren der Schlauchfallen findet sich reiche Beute an Ameisen, Käfern und anderen geflügelten Insekten. Lebende Mückenlarven, die wie Wyeomyia smithii in Nordamerika in den Schläuchen heranwachsen, können wir keine feststellen. Mitunter hat sich jedoch im oberen Teil des Schlauchs eine Spinne angesiedelt, um die von der Sarracenia angelockten Insekten "abzufischen".

Nachdem alle Aufnahmen gemacht sind, gehen wir zurück zum Auto und fahren wenige Kilometer weiter, um noch einen zweiten Standort zu besuchen. Wiederum geht es erst eine Weile zu Fuß durch die herrliche, in vielen Farben blühende Berglandschaft, bis wir schließlich einen See erreichen, in dem Ruedi gleich einen mit etwa 20 cm Länge recht kleinen Wasserschlauch entdeckt. Wir angeln die wurzellose und freischwimmende Pflanze aus dem Wasser und hängen sie an einen niedrigen Ast, um die typischen Fangblasen mit dem Makro filmen zu können. Dabei stellen wir fest, daß es sich um Utricularia minor handelt. In den Bergseen der Schweiz finden sich nicht nur viele der in Europa verbreiteten Wasserschläuche, in einigen wenigen kommt sogar noch die seltene Wasserfalle Aldrovanda vesiculosa vor, die ebenfalls freischwimmend und ohne Wurzeln mit 2–3 mm großen Klappfallen, sehr ähnlich der Venusfliegenfalle (Dionaea muscipula), Beute macht. Diese Art ist hier zwar nicht vertreten, ein weiterer Ausflug an einen See mit Aldrovanda ist jedoch geplant. Wenige Meter vom Seeufer entfernt finden sich zahlreiche Exemplare des in der ganzen nördlichen Hemisphäre verbreiteten rundblättrigen Sonnentaus Drosera rotundifolia. Eingenommen hat er eine schleimlösende Wirkung bei Erkältungen und ist daher als Bestandteil in einigen Hustenbonbons (z.B. Herbalpina) enthalten. Die Pflanzen dafür stammen, da sie bei uns inzwischen streng geschützt sind, meist aus russischen Mooren. Etwas weiter, der Boden besteht jetzt wieder aus einem dichten, von Gräsern durchsetzten Sphagnum-Polster wie am ersten von uns besuchten Standort, gedeihen die größten Drosera × obovata, die ich jemals gesehen habe. Diese Naturhybride aus D. rotundifolia und D. anglica ist mit über 10 cm Durchmesser größer als ihre Elternpflanzen. Die leuchtend roten, in der Sonne glitzernden Tentakel der Fangblätter eignen sich hervorragend für Makroaufnahmen. Dabei ist der Boden unter dem Sphagnum so sumpfig, daß meine Füße bei den Aufnahmen, trotz einer extra mitgebrachten Schaumstoff-Unterlage, langsam immer tiefer einsinken. Als ich dies bemerke, stecken die Schuhe bereits im Morast und verursachen ein lautes schmatzenden Geräusch als ich sie herausziehe. Solche Zwischenfälle gehören natürlich zum Abenteuer, genau wie die allgegenwärtigen Mücken und vereinzelten Pferdebremsen, die von den nahen Rinderweiden herüber fliegen und recht schmerzhaft zustechen können.

Wir suchen noch eine Weile nach dem selteneren langblättrigen Sonnentau (Drosera anglica), den Ruedi in früheren Jahren hier auch gefunden hat, sind damit jedoch nicht erfolgreich. Interessant ist, daß sich Drosera × obovata, eine sterile Hybride die sich also nicht durch Samen reproduzieren kann, durch rein vegetative Vermehrung an diesem Standort zur in Größe und Anzahl dominierenden Art entwickelt hat.

Tatsächlich finden wir auch in diesem Moor weitere, bis zu einem Meter Durchmesser große Horste von Sarracenia purpurea ssp. purpurea und ich frage Ruedi, wie denn diese nordamerikanischen Schlauchpflanzen, die im Osten der USA und in Kanada beheimatet sind, offensichtlich schon vor Jahrzehnten ins Schweizer Jura gelangten. Er erklärt mir, daß in der Nähe immer noch eine alte Frau wohnt, die wohl vor über 50 Jahren als junges Mädchen diese Sarracenien aus Amerika erhalten oder mitgebracht hat. Da die Bedingungen hier denen der Naturstandorte im Nordosten der USA ähneln, lag wohl der Gedanke nah, diese interessanten Gewächse im Moor auszupflanzen.

Dieses Areal wurde inzwischen zum Naturschutzgebiet und es gab von Seiten der zuständigen Behörden Überlegungen, die standortfremden Schlauchpflanzen wieder zu entfernen. Nach einigem hin und her kam man aber zu dem Ergebnis, daß von den Sarracenien auch nach einem halben Jahrhundert für andere, einheimische Arten keinerlei Gefahren ausgehen und sie deshalb als spezielle Rarität im Naturschutzgebiet verbleiben dürfen. Zum Glück, möchte ich da als alter Insektivoren-Fan hinzufügen, wobei es mit Sicherheit richtig ist, bei der Einführung standortfremder Arten speziell in Naturschutzgebiete äußerst vorsichtig zu sein.

Als wir auch hier alle Bilder im Kasten haben, setzen wir uns zum Picknick ans Seeufer und beschließen die Exkursion mit einer Diskussion über die hiesigen Fleischis. Dabei kommt auch zur Sprache, daß es in der Schweiz noch mehrere "Naturstandorte" von Sarracenia purpurea gibt, und das nicht nur im Jura. Es stellt sich dabei auch die Frage, nach wie vielen Jahrzehnten eine einmal eingeführte Art als zum Standort gehörig bezeichnet werden kann. Falls jemand die Antwort kennt, würde ich mich über eine Zuschrift freuen.