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Aus der Financial Times Deutschland vom 9. Juli 2004

Düngen gilt nicht

Von Gregor Kessler

Fleisch fressende Pflanzen gelten als Monster der Botanik.
Gegen dieses miese Image kämpfen die Fans der grünen Mampfer. Und füttern sie mit allem Getier, das der Keller hergibt.
 

Die Wände sind nicht besonders hoch. Mit drei, vier Zügen wäre man wieder oben, wo die Sonne den rettenden Rand rot leuchten lässt. Aber die Wände sind glatt. Wie Seifenlauge auf einer Glasscheibe. Nichts findet Halt an ihnen. Mit jedem Versuch, nach oben zu gelangen, rutscht der Körper nur weiter in den enger werdenden Schlauch. Jedes Recken gen Himmel wird ein Sinken nach unten. Tiefer hinein in die milchige Flüssigkeit. Bis man kaum mehr atmen kann. Besser man erstickt jetzt. Denn andernfalls wird man bei lebendigem Leib verdaut.
Siegfried Hartmeyer mag solche Geschichten nicht. Gar nicht mal, weil sie sich nicht eben so zutragen würden in den Regenwäldern Borneos und Sri Lankas. Dort, wo die eindrucksvollsten Fleisch fressenden Pflanzen wachsen: Nepenthes, deren mit Verdauungsenzymen gefüllte Kannen leicht 30, 40 Zentimeter groß werden. "Da findet man tatsächlich schon mal die Überreste von Mäusen oder Ratten drin", sagt er. Und wie es den verunglückten Nagern im Magen der Pflanze, den Kannen, ergeht, das weiß der 50-Jährige auch sehr genau. Lange Jahre arbeitete er in der Schweiz als Chemielaborant. "Nach dem Ertrinken oder Ersticken beginnen die Verdauungsenzyme ihre Arbeit. Die Weichteile sind am anfälligsten: Augen, Schnauze, Anus. Dort dringt die Flüssigkeit in den Körper ein und beginnt mit der Auflösung der Innereien. Nach und nach wird dann auch der Rest des Tiers aufgelöst. Übrig bleibt am Ende nur das Skelett."

Aber noch mal: Siegfried Hartmeyer mag solche Geschichten nicht, sagt er. Er erzählt nur furchtbar gern und am liebsten über Fleisch fressende Pflanzen. "Dieses ganze sensationsheischende Geschwätz von der ‚Killerpflanze‘, das haben die doch gar nicht nötig", findet er. Schließlich gebe es bei den "Fleischis", wie er sie nicht ohne Zuneigung nennt, doch so viel mehr zu entdecken.

Hartmeyers Neugier auf noch unbekannte Fleischis trieb ihn ins französische Lyon. Dort lud vor ein paar Wochen die Internationale Gesellschaft für Fleisch fressende Pflanzen, die ICPS, die besten Experten ein, ihre Erkenntnisse zu teilen. Jüngst entdeckte Pflanzen und gelungene Züchtungen lassen die Fleischfresser-Freunde aber daheim; für einen Transport sind sie viel zu kostbar. Das Treffen ist vor allem eine Art Film-Messe. Und Hartmeyer ist eine Art Steven Spielberg.

Die Titel der Videos und DVDs, mit denen Hartmeyer sich in der "Fleischi"-Szene einen Namen gemacht hat, erinnern an den ursprünglichen Kitzel der Fleischfresser. Daran, dass die Futterpflanze hier in einem ganz eigenen Sinn gemeint ist. Nicht Tier frisst Pflanze. Sondern umgekehrt: Pflanze lockt Tier in die Falle, tötet und verdaut es schließlich. "Beautiful and Hungry Part 1 & 2" heißen zwei von Hartmeyers Filmen, "Fleischimania" ein dritter. Das erinnert schon an die immer hungrige "Killerpflanze" Audrey II, die in Frank Oz’ Film "Little Shop of Horrors" die Kundschaft eines Blumenladens vertilgt. Das klingt nach 70er-Jahre-B-Movies wie "Attack of the Killer Tomatoes". Den Eindruck zerstreut Hartmeyer nicht gerade: "Hunting Veggies" steht auf allen seinen Videoproduktionen.

Die Filme halten nicht, was ihre Titel versprechen. Es sind von liebevoller Laienhand produzierte Dokumentationen der Karnivorenexkursionen des Ehepaars Siegfried und Irmgard Hartmeyer, zwischen Urlaubsvideo und wissenschaftlicher Dokumentation angesiedelt. Auf den Treffen der eingeschworenen Karnivorengemeinde werden sie dennoch regelmäßig gezeigt. Vor zwei Jahren in Tokio, vor vier Jahren in San Francisco. Wie "Klassentreffen" seien die Konferenzen, sagen sie, "viele Teilnehmer kannten wir schon, da gingen die noch zur Schule".

Tatsächlich reichen die Wurzeln der karnivoren Begeisterung auffallend oft zurück bis in die Pubertät. Viele der überwiegend männlichen Teilnehmer in Lyon besorgen sich mit 12 oder 13 eine Venusfliegenfalle aus dem Gartencenter. Leicht lässt sich ausmalen, woher die Faszination damals rührte. Frisch noch hallte der Firmunterricht nach: "Alles Fleisch ist wie Gras" (1. Petrus 1, 24). Höchst verwirrend. Vor allem, weil man im Anschluss nicht weiter zuhörte. Denn natürlich wollte man kein Gras. Auch keine Oblate, die sich angeblich in den Leib Christi wandelte. Nein, Fleisch wollte man, selber verschlingen oder jedenfalls vorsichtig halten in Form eines netten Mädchens aus der Nachbarklasse.

Nun gab es etwas, das alles weiter verdrehte, aber schön anzuschauen war: das zur Topfpflanze gewordene Fleisch, eine Venusfliegenfalle. Sie ließ sich züchten und hatte Lippen, dunkelrot und wulstig. Sie lockte Fleisch an, verführte es, fraß es und war doch ohne Sünde, weil pflanzlich und nicht mit Verbot belegt. Betrachten ließ sie sich auch, ohne dass man der Unzucht bezichtigt worden wäre, Stunden konnte man auf die oft wirklich obszönen Ränder blicken, ohne zu erröten, so eine Karnivore läuft ja auch nicht davon. Der Blumenzüchter als Minnesklave.

Von alldem will Siegfried Hartmeyer nichts wissen. Er kam vergleichsweise spät dazu. "Die kluge Hausfrau" war es, die ihn 1977 auf den Geschmack brachte. Zwischen Rezepten und Haushaltstipps entdeckte er in der Edeka-Kundenzeitschrift das Angebot einer Venusfliegenfalle. Der 23-Jährige legte sich seine ersten Pflänzchen mit dem dunkelroten Klappmaul zu.
"Wie Natur funktioniert", habe ihn fasziniert. Dass Fleisch fressende Pflanzen auf unwirtlichen Böden gedeihen, weil sie ihre Nährstoffe nicht nur durch ihre Wurzeln, sondern durch das Vertilgen von Insekten bekommen; dass viele von ihnen Symbiosen mit Kleintieren eingehen, die für sie die Verdauung erledigen und dann zum Dank mineralhaltige Exkremente auf den Blättern hinterlassen; dass sich manche Falle in Sekundenbruchteilen schließt.

27 Jahre später hat Hartmeyer sich ein beachtliches Wissen angeeignet, das er nur zu gern teilt. Als "Experte für Fleisch fressende Pflanzen" bittet Stefan Raab ihn im November 2002 zu "TV total". Und Hartmeyer kommt, um zu erklären. Kommt in voller Montur: Cowboyhut, Lederweste, Nietengürtel. Wie eine Kreuzung aus Indiana Jones und Hell’s Angel habe er ausgesehen, wären da nicht der kleine Schnauzer und die breite Brille. "Bei öffentlichen Auftritten", sagt er, "na ja, da soll das eben ein bisschen nach Abenteurer aussehen."
Manche Leute finden, Siegfried Hartmeyer ist verrückt. Ein Freak mit einer perversen Vorliebe für eine paradoxe Laune der Natur: Pflanzen, die Tiere fressen. Seit vier Jahren kümmert er sich ausschließlich um seine "Fleischis". Im Jahr 2000 wird er frühverrentet. Schwerer Tinnitus. Das große Rauschen. Da ist er 46 und weiß nicht, was jetzt werden soll. "Den ganzen Tag, 24 Stunden einen ICE durch den Kopf brausen zu haben", sagt er, "das ist purer Stress." Da habe er manchmal schon gedacht, ob er "das Ganze nicht sein lassen soll". Hat er nicht. Wegen Irmgard, die "das gemeinsam mit Siggi durchstehen" wollte. Und wegen der Fleisch fressenden Pflanzen. "Ein gutes Hobby zu haben," sagt er, "das kann Leben retten." Bei ihm ist es eines, bei dem Insekten das ihre verlieren.

Mittlerweile hat sein Hobby sich ausgewachsen. Über 150 verschiedene "Fleischi"-Arten sind es inzwischen, viele davon sind mehrfach vertreten. Schlauchpflanzen, Kannenpflanzen, Sonnentaugewächse. "Die wichtigsten Arten habe ich alle zu Hause." Sie haben das gesamte Haus der Hartmeyers kolonisiert. "Außer das Schlafzimmer, da ist es zu dunkel." Der Rest ist in Klimazonen eingeteilt. Vom südwestaustralischen Zwergsonnentau oben unterm Dach bis zu einer Reihe Kannenpflanzen aus den Regenwäldern Asiens im Tropenhaus im Garten. Im Wohnzimmer steht eine südafrikanische Roridula dentata, eine Taupflanze, die mit ihren klebrigen Tentakeln jede Menge Insekten fängt. Nein, mit Mücken im Haus haben die Hartmeyers keine Probleme.

Eher fehlen welche. In die Kannen im Tropenhaus wirft Hartmeyer, was er findet: Kellerasseln, Wespen, Bienen. "Die können ruhig tot sein, verdaut werden sie trotzdem." Die Venusfliegenfallen sind anspruchsvoller: Ohne dass sich was bewegt, reagieren sie nicht. Wenn er ihnen Gutes tun will, kauft Hartmeyer eine Lage Fliegenmaden. "Die muss man ein paar Tage stehen lassen, dann fangen sie an zu schlüpfen. Den Rest besorgen die Pflanzen."

Ein Fliegen-Genozid, der nicht nötig wäre. Wenn Fleischfresser genügend Nährstoffe im Boden finden, kommen sie auch ohne Insekten aus. Aber Dünger kommt für Hartmeyer nicht in Frage. "Gedüngte Pflanzen sind schwach und nicht widerstandsfähig. Gefütterte sind robust und stark. Man sieht Pflanzen an, ob sie was zu essen bekommen." Seine kleinsten bekommen Fischfutterflocken. Für die großen lässt er im Sommer manchmal das Fenster zum Tropenhaus offen stehen. In der Not fressen auch Nepenthes Fliegen.

© 2004 Financial Times Deutschland

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