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Ratz fatz aus die Maus !
Hartmeyer, I. & Hartmeyer, S. (2007)  DAS TAUBLATT (GFP) 2007/2: 31-36


Der eigentliche Vorfall geschah völlig unbemerkt irgendwann am „Tag Eins" dieser nicht ganz alltäglichen Geschichte aus dem Jahr 2007, welches uns einen außergewöhnlich sonnigen Frühling mit sommerlichen Temperaturen bescherte, also beste Bedingungen für unser tropisches Gewächshaus. Eine Nepenthes mira blühte bereits gemeinsam mit einer Nepenthes dubia, weshalb wir uns abends im angrenzenden Schlafzimmer mit einem leicht muffigen, jedoch durchaus erträglichen „Duft" konfrontiert sahen. Keine Frage, echte Fleischi-Fans tolerieren die etwa zwei Wochen Blütezeit dieser Pflanzen natürlich, zumal diverse andere Arten des Kannenstrauchs, wie etwa Nepenthes x mixta, Nepenthes rafflesiana, oder auch Nepenthes truncata durchaus so heftig riechen können, dass selbst „Hardcore-Freaks" an ihre Grenzen geraten, jedenfalls wenn sie mit dem Geruch auch schlafen müssen. So ahnten wir auch am „Tag Zwei" noch nicht einmal, dass überhaupt etwas passiert war.


Maus in Truncata

Dann jedoch, es war am Nachmittag von „Tag Drei", meldete sich Irmgards empfindliche Nase, wodurch sie sich veranlasst sah - trotz unbestrittener Pflanzenliebe - ernsthaft das Abschneiden und Entfernen der Blüten einzufordern. Jedoch eine sofortige kritische Geruchsprobe direkt an den Blüten zeigte, dass es im Raum zusätzlich eine deutliche Duftnote „Marke Kanalisation" gab, weshalb wir zu dem Zeitpunkt schon befürchteten, es könne sich um eine undichte Abwasserleitung unter dem Gewächshaus handeln. Das hätte uns gerade noch zum Glück gefehlt! Gleich am Morgen von „Tag Vier" fühlte sich Siggi an seine Zeit bei der Gasmessgruppe der SANDOZ-Feuerwehr erinnert, als er auf Knien mit der Nase voran das Gewächshaus gezielt durchschnüffelte, um die Ursache für den mittlerweile ebenso penetranten wie dominanten Gout zu finden. Die Blüten waren eindeutig unschuldig, denn er verstärkte sich an der Stelle, wo mehrere große Kannen einer über 20 Jahre alte Nepenthes truncata direkt auf dem Boden standen, dort verlief jedoch kein Abwasserrohr. Als sich am Boden nichts fand, schaute Siggi in die vordere, mit 28 cm Höhe (bis zur Deckelspitze) durchaus ansehnliche Kanne und traute seinen Augen kaum, denn in der Verdauungsflüssigkeit schwamm eine ausgewachsene tote Hausmaus, eindeutig die Ursache unseres olfaktorischen Problems.
Maus in Truncata Einige Mäuseköttel auf dem benachbarten Blatt direkt neben der Kannenöffnung gaben noch einen Hinweis darauf, wie es passiert war. Nachdem sie ihre Hinterlassenschaft auf dem Blatt platziert hatte, versuchte die Maus offensichtlich, von den süßen Nektartropfen an der Unterseite des benachbarten Kannendeckels zu naschen, wozu sie auf das sehr glatte Peristom (den hornartigen „Kragen" der Kanne) klettern und sich darauf aufrecht nach oben strecken musste, um an die leckeren Tröpfchen zu gelangen. Dabei rutschte sie wahrscheinlich ab und fiel in die Kanne, wo sie wohl nach kurzer Zeit ertrank, denn es gab darin keinerlei Kratz- oder Beißspuren. Damit war bewiesen, was Siggi bei seinem Auftritt in der Sendung „TVtotal" (PRO7) geäußert hatte, als er eine abgeschnittene große Kanne genau dieser Pflanze zur Dokumentation dabei hatte und aus Überzeugung, aber doch eher theoretisch meinte: „Die ist wohl groß genug um auch Mäuse zu nehmen, allerdings füttere ich keine Mäuse." Darauf meinte Stefan Raab ungläubig: „Mäuse?? Die frisst Mäuse?! Ja, beißen die sich nicht durch die Wand?", worauf Siggi antwortete: „Nein, die versuchen panisch zu schwimmen bis nichts mehr geht und ertrinken." Tatsächlich gibt es in der Literatur vereinzelt - aber oft zitiert - Augenzeugenberichte über tote Nagetiere, die in den mehrere Liter fassenden „Mägen" von Nepenthes rajah auf Borneo gefunden wurden.

Nach der Aufklärung was passiert war, stand bei uns sofort die Frage im Raum, ob die Falle der Nepenthes truncata auch groß genug ist, um die Beute bis auf das Skelett und die Fellhaare zu verdauen, oder ob die Fäulnisbakterien sich vorher so stark vermehren, dass die ganze Kanne verrottet. Das herauszufinden würde wohl ein bis zwei Wochen dauern. Es war noch kühl an diesem Morgen, das Gewächshausfenster stand auf Lüftung und wir beschlossen, das Experiment zu wagen. Also beließen wir das graue Fellbündel in der Pflanze.
Wir erinnerten uns, dass der „Parc de Tête d’Or" in Lyon (Frankreich) voriges Jahr aus einer gefangenen Maus in deren Nepenthes truncata eine Sensation machte, über die sogar bei SPIEGEL-online berichtet wurde. Also fotografierten wir das Geschehen und beschlossen im Internetforum der GFP und der CPUK über unser Mausabenteuer zu berichten. Zusätzlich fragten wir telefonisch bei unserer „Weiler Zeitung" an, ob an der Story Interesse bestünde. Das Echo war beindruckend, denn deren Reporter stand bereits nach 15 Minuten vor der Tür. Er notierte sich im Wohnzimmer durchaus interessiert unsere Ausführungen, allerdings hielt er beim Tatortfoto respektvollen Abstand, als Siggi die Mäuseleiche mit einer Scherenzange aus der Kanne hob. Inzwischen war es nämlich ein sonniger und warmer Nachmittag geworden und bei etwa 36 Grad in unserem tropischen Gewächshaus lief auch der Verdauungsprozess in der Kanne auf Hochtouren, weshalb der Aufenthalt im Raum jetzt nichts mehr für olfaktorische Sensibelchen war. Der Reporter verabschiedete sich daher auffällig rasch, als er das Foto für die Zeitung im Kasten hatte. Sein recht passabler Artikel erschien wenige Tage später und wir wurden in der Stadt sehr oft darauf angesprochen. Tatsächlich kam sogar noch eine Anfrage von Indonesiens größter Gartenzeitung „TRUBUS", ob sie unsere „awesome pictures", welche deren Redakteur, Onny Untung, im CPUK-Forum entdeckt hatte, in der Juniausgabe drucken dürfen. Wir stimmten gerne zu.
Am Abend von „Tag Vier" hatten wir zwar gut gelüftet, aber der Geruch im angrenzenden Schlafzimmer überstieg dennoch deutlich unsere Toleranzgrenze, weshalb wir zum Schlafen ins Gästezimmer umzogen. Auch am Morgen von „Tag Fünf" waren wir noch entschlossen, das Verdauungsexperiment fortzuführen. Nicht nur die Kanne war noch unbeschädigt, sogar die Flüssigkeit darin war durch offensichtlich ausreichende Aktivität der Verdauungsenzyme immer noch völlig klar. Jetzt kamen auch die ersten Reaktionen und Emails mit Stellungnahmen zu unseren Forumbeiträgen. Da berichteten gleich mehrere Leute, dass auch in ihren Gewächshäusern Mäuse in großen Nepentheskannen gefangen worden waren, meist handelte es sich um Nepenthes truncata, aber auch um Nepenthes x mixta und Nepenthes mirabilis. Obwohl uns schon Robert Cantley bei den Filmaufnahmen in den Gewächshäusern von Borneo Exotics in Sri Lanka von gefangenen Nagern in seinen Kannenpflanzen berichtete, dachten wir bisher, das Einfangen kleiner Wirbeltiere sei eher ein seltener Zufall. Nach der aktuellen Diskussion sieht es aber so aus, als ob die wirklich großen Arten durchaus häufiger als bisher gedacht auch größere Beute, also kleine Nager, Reptilien und Amphibien auf dem Speiseplan haben, obwohl Insekten wie Ameisen oder Kakerlaken zahlenmäßig sicher überwiegen.

N. truncata mit Lineal
Das schon Anfang April mit über 25 Grad für die Jahreszeit ungewöhnlich warme Wetter ließ auch am Nachmittag von „Tag Fünf" die Temperatur im Gewächshaus rasch wieder auf über 35 Grad steigen, wodurch die Verdauung der Maus rasante Fortschritte machte. Allerdings wurden die Ausdünstungen dadurch so stark, dass die teilweise wirklich Übelkeit erregenden Schwaden sogar in die oberen Stockwerke des Hauses waberten, weshalb selbst unser Ausweichrefugium unter dem Dach zwischenzeitlich zum olfaktorischen Risikobereich wurde. Aber damit nicht genug, selbst beim Einkaufen in der Stadt hatten wir beide mehrmals urplötzlich, bei völlig normaler Umgebungsluft, diesen ekligen Verwesungsgeruch wieder in der Nase. Tatsächlich war es nach unserer Rückkehr am frühen Abend der reine Selbsterhaltungstrieb, der uns veranlasste das Experiment zu beenden. Im Gewächshaus hatten sich – wenig verwunderlich - inzwischen auch zahlreiche fette Fliegen eingefunden, von denen bereits ein halbes Dutzend zusätzlich in der „Mausefalle" ersoffen waren, aber auch die übrigen Pflanzen kamen jetzt auf ihre Kosten, denn bereits am nächsten Morgen waren alle Fliegen von den Karnivoren eingefangen. Der Gestank verschwand übrigens nur wenige Minuten nachdem die Maus entfernt wurde, obwohl die immer noch völlig klare Verdauungsflüssigkeit in der Kanne verblieb. Alles deutet daraufhin, dass unsere Nepenthes truncata ihre Beute ohne unser Eingreifen tatsächlich recht problemlos verdaut hätte, denn auch zwei Wochen später war deren „Magen" von den fünf Tagen Mäuseextraktion völlig unbeschadet. Mehr als das, offensichtlich ist der Pflanze die Mahlzeit sogar sehr gut bekommen, denn inzwischen ist etwa ein Monat vergangen und eine neue Kanne wurde gebildet. Die ist mit 36 cm Höhe noch ganze acht cm größer als die vorherige und dadurch bereit für noch größere Beute, also „ratz fatz aus die Maus"!

 

Anmerkung zum Artikel (September 2008):

Die unbeschädigte Kanne beweist erneut, dass sich auch gefangene Nagetiere nicht durch die Wand beißen, sondern im Verdauungssaft ertrinken. Reicht die Kapazität der Kanne die Maus vollständig zu verdauen?

Inzwischen wurden innerhalb von 15 Monaten vier erwachsene Mäuse erbeutet. Bei Maus 3 und Maus 4 waren wir konsequent und protokollierten den Verdauungsprozess vollständig. Wir veröffentlichten unsere Untersuchung in der Fachzeitschrift Das Taublatt der GFP. Zum Lesen einfach den Titel unten anklicken.

English translation:
The digestion of rodents by Nepenthes truncata